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Große Gefühle: Der Psiram-Jahresrückblick 2016

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Gefühlt war dieses Jahr länger, ereignisreicher, aufregender, deprimierender, spannender, bedrohlicher als alle Jahre zuvor. Gefühlt hat der Realismus, das kritische Denken, die Vernunft einige herbe Rückschläge einstecken müssen. Gefühlt bestanden die Nachrichten nur noch aus Meldungen über Krieg, Terror, Flüchtlinge und den endgültigen Untergang des Abendlandes. Gefühlt ist die gesamte Musikszene der 60er, 70er und 80er Jahre ausgestorben. Gefühlt sind wir von Reichsbürgern umgeben, die sich eigene Ausweise drucken und die Erde zur Scheibe in den Grenzen von 1937 erklären. Gefühlt steht an jeder Ecke ein Globulidealer und brüllt uns schon aus der Ferne entgegen: Viren gibt es nicht! Die Pharmamafia will uns alle töten! Komm mit zur nächsten Masernparty! Hüte dich vor den Chemtrails!

Jahresende. Zeit, die gemischten Gefühle zu sortieren, in ihre einzelnen Bestandteile zu zerlegen und zu schauen, was davon wirklich übrig bleibt. Wir richten unser Eulenauge auf die Fakten, so sie denn zu finden sind, übermalen die Schwarzseherei mit der bunten Vielfalt skeptischer Gedanken und glätten die Wogen der Extreme durch einen ausgleichenden Blick auf das große „Was war sonst noch?“.

Ach ja, die Fakten. Unsere Sorgenkinder des Jahres. Braucht die noch jemand oder können die weg? Sind wir jetzt offiziell im „postfaktischen Zeitalter“ angekommen? Während sich mit vollständigem Faktenverzicht problemlos Wahlen gewinnen und Massen mobilisieren lassen, besteht die weite Welt der Wissenschaft bis auf wenige Ausnahmen immer noch darauf, nach den tatsächlichen und nachprüfbaren Zusammenhängen zu suchen. Das Individuum dagegen liebt die schönen Geschichten, die Wünsche, Träume und Hoffnungen, die uns die Realität freundlicher, erträglicher oder wenigstens zuversichtlicher erscheinen lassen.

Also erzählen wir Geschichten. Von Menschen, die uns im vergangenen Jahr bewegt haben, von ihren Erlebnissen, ihren Taten, ihren Erfolgen und Schicksalen. Obwohl, oder vielleicht gerade weil Psiram das nicht ist: Keine Gesichter, keine Namen, keine Geschichten, sondern eine frei verfügbare und kritisierbare Sammlung von nachprüfbarem Wissen, archivierten Belegen und dokumentierten Ereignissen.

 


„Susannchen“

Das Jahr begann mit der bisher größten und erfolgreichsten Aufklärungskampagne in Sachen Homöopathie. Im Januar trafen sich erstmals die Initiatoren des „Informationsnetzwerkes Homöopathie“. Auslöser war ein Artikel von Sebastian Bartoschek im Blog Ruhrbarone. Zur Geschichte des Informationsnetzwerkes gehört auch jene von Dr. Natalie Grams, einst überzeugte homöopathische Ärztin, heute Vorzeigekritikerin auf allen Kanälen. Ihr ursprünglicher Plan war, ein Buch zur Verteidigung der hochverdünnten Pseudomedizin zu schreiben. Bei den Recherchen dazu fielen ihr jedoch bald die systemimmanenten Widersprüche dieser Lehre auf, was sie schließlich zum Umdenken bewog. Ihre Botschaft kommt beim Publikum an. Mit ihr als Repräsentantin und vielen weiteren kompetenten Mitgliedern und Unterstützern schafft es das INH, in der Öffentlichkeit ein kritisches Bewusstsein für die Scheinmedizin zu wecken. Mit dabei ist auch „Susannchen“, die als INH-Maskottchen, gezeichnet von Andrea Walter, besonders Eltern und Kinder ansprechen soll.


©www.pertramer.at

Wissen lässt sich am besten vermitteln, wenn es unterhaltsam präsentiert wird. Das war auch dieses Jahr wieder die Stärke des Wissenschafts-Kabaretts „Science Busters“, welches nach dem plötzlichen Tod des Mitgründers Heinz Oberhummer seit Januar mit neuer und größerer Besetzung wieder auf Tour ist. Neben dem „M.C.“ Martin Puntigam stehen nun abwechselnd Astronom Dr. Florian Freistetter, Verhaltensbiologin Dr. Elisabeth Oberzaucher, Molekularbiologe Dr. Helmut Jungwirth, Chemiker Dr. Peter Weinberger, Kabarettist Gunkl sowie Science-Slammer und Molekularbiologe Martin Moder auf der Bühne und vor der Kamera.


Unterhaltsame und aufklärende Informationen lassen sich hervorragend über YouTube verbreiten und sind dort ein gern gesehenes Gegengewicht zu den Unmengen an Chemtrail- und Verschwörungsvideos. Wissenschaftserklärer Harald Lesch leistet auf seinem neuen YouTube-Kanal „Terra X Lesch & Co“ seit Februar im Wochenrhythmus beste Aufklärungsarbeit.


Im Februar trafen sich der Arzt David Bardens und der Biologe Stefan Lanka (erneut) vor Gericht. Lanka hatte 100.000 Euro für den Nachweis des Masernvirus ausgelobt, dessen Existenz er bestreitet. Doch mit den Nachweisen, die David Bardens vorlegte, gab er sich nicht zufrieden. Es waren zu viele. Leider schloss das Gericht sich in der Form den Auslegungen Lankas an, der den Beweis in einer einzigen Studie erbracht sehen wollte. An der Existenz des Virus ändert das natürlich nichts.


Auch der Arzt Dr. Philipp S. Holstein hatte das zweifelhafte Vergnügen, sich mit Impfgegnern und Virenleugnern auseinandersetzen zu dürfen. Nach einem eher harmlosen Facebook-Beitrag zum Thema Impfen bekam er das gesamte Schimpfwortrepertoire der Anti-Vaxxer zu spüren – und legte mächtig nach. Das Ergebnis ist in mehreren Akten auf seiner Seite zu bestaunen.


Buch: Unheilpraktiker

Anousch Mueller war fest davon überzeugt, mit einer Heilpraktiker-Ausbildung nicht nur ihre Berufung, sondern auch eine solide Grundlage für die Behandlung eigener Beschwerden gefunden zu haben. Als sie anfing, die Unterrichtsinhalte zu hinterfragen, zweifelte sie bald an deren Sinn und schrieb nach weiteren Recherchen das Sachbuch „Unheilpraktiker“, welches im Mai dieses Jahres erschien. Auch in Interviews und Fernsehauftritten gelingt es ihr, berechtigte und fundierte Kritik am Heilpraktikerwesen auf sympathische und freundliche Art zu vermitteln.


© Der goldene Aluhut Silberberger & Schulze GbR

Giulia Silberberger und Stefanie Wittschier haben ebenfalls eine gedankliche Wendung vollbracht, welche ihre eigenen Überzeugungen vollständig in Frage stellte. Beide beschäftigen sich heute kritisch mit Verschwörungstheorien.

Sektenaussteigerin Giulia Silberberger hat erkannt, dass Menschen, die einem Verschwörungsglauben anhängen, viele Parallelen zu Sektenmitgliedern aufweisen und gründete mit dem „Goldenen Aluhut“ eine Aufklärungsinitiative, die neben anderen Aktivitäten jedes Jahr die Verleihung eben dieser symbolischen Kopfbedeckung an die Verbreiter besonders abstruser Verschwörungstheorien ausrichtet. Stefanie Wittschier wäre vor einigen Jahren noch selbst Anwärterin auf diesen Negativpreis gewesen, hat aber den Ausstieg längst geschafft und klärt auf lustige und kritische Art mit der „Lockeren Schraube“ über diverse Verschwörungsideologien auf.


Humor ist die ideale Waffe gegen Verschwörungstheorien, irrationale Glaubenssysteme und Pseudowissenschaften. Und so haben sich in diesem Jahr einige Humoristen für das kritische Denken stark gemacht. Tommy Krappweis erklärt in seinem „Dunning-Kruger-Blues“, warum Menschen mit geringem Wissen sich ihrer Sache oft besonders sicher sind. Gemeinsam mit Wigald Boning und Bernhard Hoecker nahm er sich der „Postfaktokalypse“ an und wird das hoffentlich auch zukünftig tun. Vince Ebert klärt im Comedy-Stil über Esoterik und Pseudophysik auf, während Eckhard von Hirschhausen die Scheinmedizin locker auf die Schippe nimmt, ohne dabei allzu hart auszuteilen. Dass Wissenschaftler auch gute Komödianten sein können, zeigten Florian Aigner und Martin Moder in ihrem esoterikkritischen Bühnenprogramm, bei Science-Slams und anderen Vorträgen.


Wer Unfug direkt und vehement bekämpft wie GkD-Gründungsmitglied Dr. Erich Eder, hat es dagegen oft etwas schwerer. Immerhin hat er sich bereits das Recht erstritten, Grander-Wasser als „aus dem Esoterik-Milieu stammenden parawissenschaftlichen Unfug” bezeichnen zu dürfen und klärt im Web sowie in Buchform über den Wasserschwindel auf. Wenn Esoteriker in der Sache keine Gegenargumente zur Hand haben, greifen sie oft zu formalen und juristischen Tricks. Das brachte Eder dieses Jahr finanziell in Bedrängnis, stieß aber auch eine Solidaritätswelle an, um diese Last kräftig zu mildern.


110 Nobelpreisträger können sich irren. In Sachen Gentechnik sieht es allerdings nicht danach aus. Von diversen Umweltorganisationen vehement bekämpft, gibt es bis heute keine Anzeichen dafür, dass gentechnisch veränderte Nutzpflanzen in der Nahrung schädliche Auswirkungen haben. Deshalb unterzeichneten eben jene Preisträger im Juli einen Aufruf an Greenpeace, die vereinten Nationen und die Regierungen der Welt, ihren Widerstand dagegen aufzugeben. Dann hätte auch eine äußerst sinnvolle und lebensrettende Entwicklung wie der Golden Rice endlich die Chance, gegen Vitamin-A-Mangel in Entwicklungsländern zum Einsatz zu kommen. Warum dieser Reis so besonders ist und welche Schwierigkeiten damit verbunden sind, erklärte Mitentwickler Prof. Ingo Potrykus bereits hier im Blog.

Collage der 110 Nobelpreisträger

Die 110 Nobelpreisträger und Unterzeichner (mit Dank an Karl Haro von Mogel von Biofortified für die freundliche Genehmigung, Zum Originalartikel)


Leentje Callens, Peter van Ouwendorp und Joke van der Kolk: Das sind die Namen der Opfer eines an massiver Selbstüberschätzung leidenden Heilpraktikers aus Bracht nahe der holländischen Grenze. Sie vertrauten sich mit ihren Krebsleiden einem Scharlatan an, dessen Zunft von der Ausbildungs- und Dokumentationspflicht befreit ist. Wie hoch die Zahl der Geschädigten tatsächlich ist, auch von anderen Heilpraktikern, ist deshalb völlig unbekannt. Immerhin sorgte der Fall Klaus Ross in diesem Jahr für einige Aufmerksamkeit und die Hoffnung bleibt, dass die Gesundheitsbehörden zumindest mittelfristig etwas gegen das Gefährdungspotential durch Laienmediziner unternehmen. Susanne Reichardt hat sich mit ihrem Krebsleiden ebenfalls einem Heilpraktiker anvertraut, der dazu noch ihr Ehemann war. Eine WDR-Doku begleitet sie in den letzten Monaten ihres Lebens und zeigt auch, warum ernsthafte Krankheiten in die Hände ernsthafter Mediziner gehören.


Buch: Die Fake-Jäger

Zurück zu den erfreulicheren Ereignissen. Tom Wannenmacher und Andre Wolf sind die Köpfe hinter ZDDK (mimikama.at) und haben auch in diesem Jahr wieder jede Menge Fakes entlarvt. Egal ob es sich um den neuesten und gedankenlos geteilten Facebook-Hoax oder frei erfundene „Nachrichten“ handelt: auf den Seiten der Fake-Jäger ist die passende Aufklärung zu finden. Außerdem erschien im September das zugehörige Buch „Die Fake-Jäger – Wie Gerüchte im Internet entstehen und wie man sich schützen kann”.


Frank Schmelzer geht auf seinem Video-Kanal einen anderen Weg. Schwurbler lassen sich am besten der Lächerlichkeit preisgeben, indem man sie wörtlich zitiert. Ursprünglich fing der „Bücheronkel“ mit Literaturvorträgen an, hat sich aber inzwischen mehr auf „Perlen der Webliteratur“ fokussiert und liest skurrile Fundstücke aus dem Netz sowie aus Zuschriften vor, die sich oft nur durch entsprechende Mimik kommentieren lassen. Highlights des Jahres: Ein Abschiedsvideo zur „Bürgerinitiative Sauberer Himmel“, deren Initiator Storr die Lust auf Chemtrails verloren hat und ein Vortrag über „Die flachste Erde überhaupt“.


Ebenfalls auf Youtube unterwegs ist Rayk Anders. Seine Spezialität sind politische und gesellschaftliche Themen, die er in sorgfältig produzierten Videos locker für seine junge Zielgruppe kommentiert und in denen auch immer wieder Verschwörungstheorien, Fake-News oder Impfgegner thematisiert werden. Das passende Buch dazu ist seit Oktober erhältlich.


Ein ähnliches Konzept präsentiert die Journalistin Franziska von Kempis auf ihrem Youtube-Kanal: Falschmeldungen, Verschwörungstheorien und populistischen Phrasen begegnet sie mit kritischen Fragen, nachprüfbaren Fakten und einfachen Anleitungen zur Überprüfung unbelegter Behauptungen.


In die ganz dunklen Ecken rechtsesoterischer Verschwörungsfreaks kommt man per Mausklick nicht rein. Und im echten Leben sind sie wesentlich gefährlicher. Mitten in die Runde der Neuschwabenländer und Möchtegern-Templer hat sich Riotburnz gewagt und ein Jahr lang im Umfeld des inzwischen verstorbenen Dr. Axel Stoll recherchiert. Die wirklich erstaunlichen Ergebnisse sind in einem dreiteiligen Interview zu hören und werden auch in weiteren Projekten verarbeitet. Die Psychologen Sebastian Bartoschek und Alexander „Hoaxmaster“ Waschkau haben sich ebenfalls mit dem Wirken Stolls beschäftigt, ihn interviewt und ihre Aufzeichungen in Buchform und als Film der Öffentlichkeit zugänglich gemacht.


James Randi (Quelle: Wikipedia, User Terabyte CC BY-SA 3.0)

Der erste Preisträger des im November verliehenen “Heinz Oberhummer Award für Wissenschaftskommunikation” ist kein Wissenschaftler, sondern Zauberkünstler und Skeptikerlegende: James Randi.

Er arbeitete seit den 1950er Jahren als professioneller Bühnenzauberer und galt als der beste seines Faches. Außerdem war er Gründungsmitglied der CSI, der amerikanischen Gesellschaft zur Untersuchung von Parawissenschaften. Der österreichischen Sektion stand Heinz Oberhummer viele Jahre vor. Legendär ist bis heute Randis „One Million Dollar Paranormal Challenge“ zur Überprüfung paranormaler Phänomene.


Nicht weniger akribisch ging Werner Walter bei der Überprüfung und Erklärung von Phänomenen vor, die viele Menschen für außerirdische Raumschiffe hielten. Mit seiner Organisation CENAP (Centrales Erforschungsnetz außergewöhnlicher Himmelsphänomene) und der UFO-Hotline machte er viele UFOs zu IFOs (Identifizierte Flugobjekte). Werner Walter verstarb am 7. November 2016 im Alter von 59 Jahren.


 

Das waren einige der Menschen und Geschichten, die uns 2016 begleitet haben. Und was hat sich bei Psiram im Laufe des Jahres alles getan?

  • Im Wiki finden sich inzwischen mehr als 3100 Artikel, die bisher über 58 Millionen Mal aufgerufen wurden.
  • Unsere Facebook-Seite hat bereits 4400 Follower, wobei fast 1000 Follower in diesem Jahr dazukamen.
  • Bei Twitter sind es mehr als 4000 Follower.
  • Im Mai hat uns eine Serie von Hardwareausfällen erwischt, die dafür sorgte, dass Wiki, Blog und Forum für mehrere Wochen nicht erreichbar waren. So hatten auch die technisch weniger interessierten Mitglieder des Teams Gelegenheit, etwas über RAID-Controller, Datensynchronisation und Backupstrategien zu lernen und wir sehen zukünftigen Technikproblemen etwas gelassener entgegen.
  • Seit Oktober gibt es eine neue Rubrik im Blog: Psirama ist der Name unseres Wochenrückblicks, in dem wir alle Links sammeln, die uns im Verlauf der Woche interessant erschienen.

 

Wir wünschen einen guten Rutsch in das neue Jahr, und nicht vergessen:

Prost Neujahr!


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